Was bedeutet es Eltern zu sein?

How to help your child discover their strengths

Am 23.09.2022 nahm ich an einem Webinar von Marcus Buckingham mit dem Titel „How to help your student discover their strengths – What you can do as a parent, coach, or teacher to free your student from the sameness of school and find their unique way to thrive.“ teil, dessen Inhalt ich so bemerkenswert finde, dass ich ihn mit euch teilen will und euch den Inhalt auf Deutsch zusammenfassen möchte.

Die Grundaussagen in diesem Text stammen im Grundsatz nicht von mir, auch wenn ich ihnen ziemlich uneingeschränkt zustimme. Ich bitte das beim Kommentieren zu berücksichtigen.

Wer ist Marcus Buckingham?

Marcus Buckingham hat ein Talent dafür, Menschen die richtigen Fragen zu stellen, um ihre Stärken zu identifizieren. Dieses Talent stellte er in die Dienste des US-amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup und später für seine eigene Firma. Er ist Buchautor und hat es mit „First, break all the rules“ unter die „Top 100 Business Books of all time“ geschafft. Er setzt sich dafür ein, dass Menschen für sich erkennen, was ihnen liegt und sie sich darauf fokussieren, mehr von dem zu tun, was sie lieben.

Wer noch mehr über Buckinghams Arbeit erfahren möchte, kann sich Buckinghams Website anschauen und/oder sich sein aktuelles Buch „Love and work“ beschaffen (aktuell leider nur auf Englisch).

Die Pandemie psychischer Erkrankungen unter Kindern und jungen Erwachsenen

In den USA (wo Buckingham lebt und arbeitet, aber m.E. auch weltweit) grassiert eine Pandemie unter Kindern und Jugendlichen – eine Pandemie psychischer Erkrankungen. Noch nie wurden so viele Kinder und junge Erwachsene medikamentös behandelt, um im Schul-, Hochschul- und Ausbildungsalltag zu bestehen.

Die Antwort auf diese Krise sieht Buckingham nicht in mehr Kinderpsychiatern und besseren Medikamenten.

Er sieht den Grund dieses Problems darin, dass die Kinder „sich selbst verlieren“, also vor allem den Teil, der sie selbst ausmacht. Ein bisschen so wie bei den Fundsachenkisten, die in Schulen stehen. Da sind lauter coole Sachen drin, ein tolles Cap, ein witziger Gürtel – aber irgendwer hat sie verloren, sie sind nicht mehr bei der Person zu der sie eigentlich gehören.

Kinder durchlaufen etwa mit 9 Jahren den Prozess der „Individuation“ (im Sinne von Identitätsbildung), in dem ihnen bewusst wird, dass und wie sie sich von anderen Menschen unterscheiden [an Waldorfschulen wird diese Phase als Rubikon bezeichnet; M.H]. Ihnen fällt auf, dass sie anders sind, sie andere Vorlieben haben, ihnen andere Dinge auffallen als anderen Menschen. Sie entwickeln (nicht erst dann) einzigartige Talente und Interessen – die zum Teil sehr spleenig sein können, z.B. regelmäßig die Rückseiten von Cornflakespackungen zu lesen, oder – wie es bei Buckingham selbst der Fall war – zu bemerken, dass die Zuschauer bei einem Hochsprungwettkampf unbewusst und ganz leicht ein Bein anheben, während der Sportler springt .

Wie kommt es nun dazu, dass Kinder sich und ihre besonderen Talente verlieren?

Buckingham sieht die Ursache sowohl bei Eltern als auch bei den Schulen/Ausbildungsstätten. Denn Eltern und Schulen sind nicht (mehr) in der Lage, die Kinder in ihrer Einzigartigkeit und Großartigkeit zu sehen.

Was verhindert, dass wir unsere Kinder in ihrer Einzigartigkeit sehen?

Buckingham identifiziert 4 Aspekte, die dafür sorgen, dass wir den Blick für unsere Kinder verlieren.

Und diese vier Aspekte sind Angst, Vergleicherei, Erwartungen und der Glaube an ihr Potenzial.

1 Angst

Unsere Gehirne sind von der Evolution darauf getrimmt, Gefahren und Bedrohungen zu erkennen, damit wir angemessen mit Angriff oder Flucht darauf reagieren können. Es fällt uns sehr viel leichter, Negatives zu erkennen als Positives, denn das hat bislang unser Überleben gesichert.

Als Eltern sind wir darauf getrimmt, das Überleben unseres Kindes zu sichern, und für die Zukunft und den Erfolg unseres Kindes zu sorgen.

Diese Angst sorgt nun regelmäßig dafür, zu sehen, was unser Kind alles NICHT kann, statt zu bemerken, was es alles kann und wo es besonders ist. Stattdessen verlangen wir von unseren Kindern, Dinge zu tun, damit „aus ihnen etwas wird“, damit sie erfolgreich werden.

2 Vergleicherei

Bereits im Säuglingsalter werden wir konfrontiert mit Perzentilenkurven – für Gewicht, Körper- und Kopfgröße. Viele Eltern sind besorgt, weil ihr Kind nicht dem Durchschnitt oder der Norm entspricht – und verlieren dabei die individuelle Entwicklung ihres Kindes aus dem Blick. Jeder Entwicklungsschritt wird abgeglichen mit denen von fremdem Nachwuchs („Mein Kind kann sich schon drehen, meins fängt gerade an zu krabbeln, meins kann mit 10 Monaten schon laufen, meins spricht schon 2-Wort-Sätze, …“). Und jedes Mal kommt das ungute Gefühl, warum das eigene Kind das alles noch nicht kann und ob es „normal“ ist.

Weiter geht es dann mit Schulnoten, mit ausgefallenen Hobbys, der Mitgliedschaft in Sportvereinen, mit Preisen und Auszeichnungen. Und immer brüsten sich Eltern mit den Leistungen ihrer Kinder, als wäre Elternschaft ein Wettkampfsport.

Buckingham bemerkt dazu: „When you compare, you disappear!“  Die Vergleicherei macht uns blind für die Einzigartigkeit unseres Kindes und seine individuellen Entwicklungsschritte.

3 Erwartungen

Zum Thema Erwartungen berichtet die Ko-Referentin Julie Devoll von einem Gespräch mit einer jungen Frau, die nach einem Vortrag zu ihr kam und ihr unter Tränen berichtete:

Meine Mutter ist Buchhalterin und hat mir immer geraten, ebenfalls Buchhalterin zu werden. Ich habe jetzt 4 Jahre diesen Beruf gelernt, einen erfolgreichen Abschluss gemacht, und merke, dass ich diesen Beruf hasse und er mir überhaupt nicht entspricht. Ich fühle mich komplett verloren. Ich habe 4 Jahre meines Lebens damit verbracht etwas zu tun, was ich nicht wollte.

Buckingham betont, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen dem, was wir gut können und dem was wir lieben/ gerne tun und er liefert eine spannende Definition für Stärken und Schwächen:

Eine Schwäche ist jede Aktivität, die uns schwächt, auch wenn wir möglicherweise sehr gut darin sind.

Eine Stärke ist jede Aktivität, die uns stärkt, auch wenn wir möglicherweise noch nicht besonders gut darin sind.

Und die Person, die am besten Einschätzen kann, ob es eine Schwäche oder Stärke hat, ist das Kind selbst!

Man kann ein Schulfach hassen, den Lehrer doof finden und trotzdem eine 1 bekommen. Und zur Belohnung darf man dann mehr davon machen, obwohl es einen weder erfüllt noch Freude macht?

Zu viele Eltern leben durch ihre Kinder und projizieren ihre Erwartungen auf sie.

Eine Testfrage, die universell überall auf der Welt von Eltern ähnlich beantwortet ist, ist die AACF-Frage: „Worauf fokussierst du dich am meisten, wenn dein Kind im Zeugnis die Noten A, A, C und F heimbringt (im deutschen Notensystem also 1, 1, 3 und 6)?“ Alle Eltern fragen, wie es zur 6 gekommen ist und fokussieren sich darauf. Weil sie die Erwartung hegen, dass ihr Kind keine Sechsen zu kriegen hat.

Das Problem dabei ist, dass niemand mehr nach den Einsen fragt. Denn natürlich ist es legitim, die 6 nicht zu ignorieren und aktiv zu werden, ABER der übermäßige Fokus auf die 6 (siehe Angst) verhindert, dass die Stärken des Kindes gesehen werden.

4 Glaube an das Potenzial (belief in potential)

Dieser Aspekt mag auf den ersten Blick kontra-intuitiv sein, denn viele Eltern wollen ihre Kinder gern in dem Glauben aufwachsen lassen, dass sie alles werden können, dass sie alles sein können, was sie wollen. Und insbesondere im Hinblick auf Ungleichheiten, die durch Gender, Race und Class verursacht werden, ist es durchaus sinnvoll und legitim, Kinder darin zu bestärken, sich nicht von diesen Hürden abhalten zu lassen, ihr Ziel zu verfolgen.

Die Aussage „You can be anything“ also „Du kannst alles sein/werden“ ist aber irreführend, denn niemand kann so sein wie jemand anderes, weil man sein Gehirn nicht neu verdrahten kann um jemand anderes zu werden. Niemand kann so werden wie der eigene Bruder oder die eigene Schwester.

Zu behaupten, jemand könne alles werden, hieße im Umkehrschluss, dass die Person leer wäre, dass noch nichts vorhanden wäre, was die Person ausmacht, was sie gut kann, was sie einzigartig macht.

Alle 4 Elemente haben ihre guten Seiten

Buckingham betont, dass alle 4 Elemente ihre guten Seiten haben

Angst ist gut, damit wir dafür sorgen, dass unserem Kind nichts zustößt.

Vergleiche helfen dabei zu erkennen, wenn unser Kind schwerwiegende Defizite hat, die behoben werden sollten.

Erwartungen sorgen dafür, dass wir dazu beitragen, dass unser Kind das Beste wird, das es sein kann.

Der Glaube an sein Potenzial stärkt unseren Glauben, dass unser Kind wachsen und sich entwickeln kann.

ABER alle 4 Elemente können sich ins Gegenteil wenden und dafür sorgen, dass wir unser Kind „nicht mehr sehen“.

Was können wir tun, damit unsere Kinder sich nicht verlieren?

Viele Probleme der heutigen Zeit sind systemischer Natur und für den Einzelnen mag es schwer erscheinen, selber aktiv zu werden und etwas zu ändern.

Stell die richtigen Fragen – Was bedeutet es Eltern zu sein?

Ein erster einfacher Schritt kann sein, sich eine der folgenden Fragen zu stellen, je nach dem, in welcher Rolle man steckt:

  • What is parenting for? – Was bedeutet Elternschaft? Was heißt Eltern-sein für mich?
  • What is teaching for? – Was bedeutet Lehren?
  • What is school for? – Was bedeutet Schule? Wozu ist Schule da?

Buckingham sieht die Rolle von Eltern und Lehrer:innen folgendermaßen:

„The role oft he parent (teacher) is to see the child and help the child to see themselves.“

Wir Eltern (und Lehrer:innen) können unseren Kindern dabei helfen, zu sehen, bei welchen Aktivitäten sie völlig aufgehen und was an ihnen besonders und außergewöhnlich ist. Denn dies ist für die Kinder so selbstverständlich wie Atmen, dass sie es gar nicht wahrnehmen und es ihnen fast unmöglich ist, das selbst zu benennen.

(Michael Jordan musste sich jedes Basketballspiel im Nachhinein auf Video anschauen, weil er so im Flow war und so im Spiel aufging, dass er sich nicht erinnern konnte, was er im Spiel tat und wie er seine Bälle warf.)

Drei Empfehlungen für Eltern (und Lehrer:innen)

1. Ermutige dein Kind, sich auf die Aktivität zu fokussieren, in der es aufgeht und darin so gut zu werden, dass es diese Aktivität als Beitrag für sein Umfeld einsetzen kann.

2. Frage dein Kind nach den Hintergründen: „What is it about that…?“ also sinngemäß „Was hat es damit auf sich? Bzw. Wie kommt es, dass …“, wenn es sich für eine Sache interessiert oder eine gute Note nach Hause bringt. Was hat dir daran am besten gefallen? Was magst du besonders an X und Y? Und mach dir bewusst, dass nur dein Kind die richtigen Antworten hat und DU keine einzige.

3. Nutze den „red thread questionaire“, Buckinghams  Fragebogen für die „Roten Fäden“ (also unsere Vorlieben, die sich wie rote Fäden durch unser Leben ziehen) und stelle deinem Kind ab und zu eine der Fragen (nie mehrere, sonst fühlt sich dein Kind vermutlich verhört), wie z.B.

  • „Wann war das letzte Mal, dass du wolltest, dass eine Aktivität nie endet?“
  • „Wann warst du das letzte Mal überrascht, wie gut du etwas hinbekommen hast?“

Hilf deinem Kind mit Fragen auf das hinzuweisen, was das Leben ihm/ihr über sich selbst sagen will. Hilf deinem Kind, Experte für sich selbst zu werden. Hilf deinem Kind zu sehen, was es besonders macht und die Dinge und Aktivitäten zu identifizieren, die es mehr liebt als jeder andere und in denen es auf natürlich Art und Weise anderen voraus ist.


Meine Ergänzung dazu:

Was, wenn ich mich selbst verloren habe?

Viele Erwachsene stellen irgendwann fest, dass sie selbst gar nicht das tun, was ihnen eigentlich entspricht. Dass sie leben, um die Erwartungen ihrer Eltern oder die anderer Menschen zu erfüllen und nicht wirklich Herr:in über ihr eigenes Leben sind. Dass sie selber gar nicht wissen, was ihre Stärken sind, worin sie gut sind und was ihnen so viel Freude macht, dass sie darin aufgehen?

Nicht selten trifft das auf Menschen zu, die gerade Eltern geworden sind. Ihr Baby führt ihnen vor Augen, wie es sein kann, für sich selber einzustehen.

Aber auch später halten uns vermeintlich „schwierige“ und unangepasste Kinder vor Augen, dass irgendetwas in unserem System nicht stimmt und dass wir möglicherweise auf die gleiche Art leiden wie unsere Kinder.

Ich möchte dich ermutigen, aus dem System auszusteigen – nein, du brauchst keine Papierkörbe im Großraumbüro anzünden. Finde für dich selbst heraus, was dich ausmacht und worin du gut bist. (Self-discovery tools wie Buckinghams Standout-Test oder der KOLBE-A Index können Bausteine dazu sein.)

Hinterfrage dich und deine Ängste, deine Erwartungen. Hör auf, alles und jeden zu vergleichen.

Hilf deinem Kind, seine Stärke zu erkennen. Schau dir jeden Tag dein Kind an und versuche, etwas Positives zu entdecken, etwas, das dein Kind einzigartig macht.

Wenn die Zusammenfassung für dich interessant war und du kommentieren magst…

Was ist Elternschaft für dich?

Welche der 4 Elemente hast du bei dir selbst und deiner Art Eltern zu sein erkannt?

Ich freu mich über deine Kommentare!

Das Webinar als Aufzeichnung

Seit Mitte Oktober gibt es das Webinar auch als Aufzeichnung und du kannst dir den Vortrag von Marcus Buckingham hier anschauen.

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